Peter hat nun schon eine ganze Weile mit seinen neuesten Entdeckungen zu kämpfen. Irgendwie hatte er Zugang zu der Realität vor der Realität erhalten. Zumindest war das die beste Art und Weise, wie er es sich selbst erklären konnte. Er konnte nicht wirklich sagen, wie er zu dieser Art von Offenbarung gekommen war. Irgendwie gelang es ihm, aus seiner gewohnten Wahrnehmungsweise herauszurutschen, und plötzlich eröffnete sich ihm eine ganz neue Welt. Und dann entdeckte er etwas Phänomenales: Er konnte diese „Vorrealität“ durch seine Intentionen verändern, und dann sickerten die Veränderungen in die physische Realität hinab.
Er war sehr aufgeregt darüber und hoffte, dass der Meister ihm nun sicher seine volle Erleuchtung bestätigen würde. So fand er nach einigen Tagen der Diskussion mit sich selbst schließlich den Mut, dem Meister gegenüberzutreten. Er vereinbarte einen Termin mit der Sekretärin des Meisters und freute sich, dass dieser bereits in zwei Tagen – also heute – stattfinden würde.
Wie immer, wenn er eine Verabredung mit dem Meister hatte, kam er ein paar Minuten früher und wartete vor dem Zimmer des Meisters. Peter mochte es, etwas Zeit zu haben, um sich zu sammeln und sich auf die Präsenz des Meisters vorzubereiten. Eine Präsenz , die ihn immer noch ein wenig einschüchterte, obwohl er schon seit einigen Jahren dessen Schüler war.
Als er die kleine Glocke läuten hörte, die anzeigte, dass der Meister bereit war, atmete Peter tief durch, öffnete die Tür zum Zimmer des Meisters und trat ein. Er fand ihn in seinem üblichen Stuhl sitzen. Nachdem Peter sich auf den Besucherstuhl gesetzt hatte und einen weiteren tiefen Atemzug nahm, sagte er: „Meister, ich bin zu einer tiefen Erkenntnis gelangt.“
„Tatsächlich“, sagte der Meister und schaffte es gerade noch, Interesse vorzutäuschen. Oh diese Realisierungen, dachte er bei sich. Wenige gute Dinge kommen aus einer Erkenntnis, die man in Worte fassen kann.
„Ja“, fuhr Peter fort. „Ich habe die Wurzeln der physischen Realität gesehen!“
„Oh, wirklich?“
„Ja, es ist eine Ebene, die irgendwie auf einer, wie soll ich sagen, feineren Ebene existiert. Und die Wahrnehmung wandelt die …, äh, Formationen, die auf dieser Ebene existieren, in physische Objekte um.“
„Ich verstehe.“
„Und ich weiß, dass sich diese… diese Formationen mit meiner Intenteionen verändern! Verstehst du, was ich meine?“
Der Meister seufzte innerlich. Er wusste, dass diese Erkenntnis in der Tat ein großer Durchbruch war. Aber er wusste auch, dass sein Schüler an einem Punkt der maximalen Versuchung und daher an einem Punkt maximaler Täuschung war. Peter war von reinem Herzen, aber die Realität nach eigenem Gutdünken manipulieren zu können, war vielleicht die größte Herausforderung, die man
zu überwinden hat, reines Herz hin oder her.
„Ja, Peter. Ich weiß, wovon du sprichst. Das ist Lichtwelt und sie ist in der Tat sehr interessant.“
„Soll ich jetzt da rausgehen und anfangen, das zu verbessern, was die Leute als ihre Realität ansehen? Ich meine, ich könnte die Dinge so verändern, dass alle glücklicher werden!“
Der Meister dachte über verschiedene Versionen einer Geschichte nach, die er Peter erzählen könnte, um den wichtigsten Punkt bezüglich Lichtwelt zu vermitteln: Die“Misch dich nicht ein“-Maxime. Da sein Schüler ein kluger Kopf war, beschloss der Meister, eine sehr kurze Version der Geschichte zu verwenden. Peter würde schon von selbst zu den richtigen Schlüssen kommen, und das ist offensichtlich sowieso die beste Art zu lehren. Der Meister wusste aber auch, dass es eigentlich keine Vorbereitung auf die Möglichkeiten gab, die die Lichtwelt bietet. Solange man keinen Zugang zu ihr hat, ist es nur Philosophie, und jeder kann sich vormachen, er sei vor dem Missbrauch der Macht gefeit. Aber sobald Lichtwelt zu einer erlebten Realität wird, ändern sich die Dinge drastisch, und selbst der edelste Mensch kann den neuen Versuchungen zum Opfer fallen.
„Peter“, sagte der Meister, „ich bin froh, dass du Lichtwelt entdeckt hast. Aber ich warne dich. Ich kannte einmal jemanden, der ebenfalls Lichtwelt entdeckt hatte, genau wie du. Er war sehr begeistert davon und wurde ehrgeizig. Eines Tages wollte er sich selbst seine Kräfte beweisen und beschloss, einen Berg zu versetzen. Also machte er einen Spaziergang zu den nahe gelegenen Bergen und wählte den größten von ihnen. Dann wechselte er nach Lichtwelt und begann, den Berg mit Hilfe seiner Intention anzuheben. Und weißt du was? Es funktionierte tatsächlich! Also war er von und seinen neuen Fähigkeiten sich sehr beeindruckt. Doch dann kam eine Frage in ihm auf.“
Der Meister machte eine dramaturgische Pause, dann fuhr er fort: „Sag mir, Peter. Was war die Frage? Und weiter, was ist die Antwort darauf?“
Peter brauchte nicht lange, um zu erkennen, was der Meister im Sinn hatte. Anstatt zu antworten, verbeugte sich Peter einfach und ging.
„Ich hoffe, er hat es wirklich verstanden“, sagte der Meister in den leeren Raum. „Das Herumfummeln an der Trennung ändert auf lange Sicht gar nichts. Es sind die Wesenheiten, die die Trennung als das sehen müssen, was sie wirklich ist.“ Der Meister kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob diese Erkenntnis der Machtlosigkeit eine Last ist, die nur ein wahrer Meister meistern kann.